Wie entsteht ein Trauma?
Trauma kommt aus dem Griechischen und heißt Verletzung, Wunde. Der Begriff wird nicht nur für Verletzungen der Psyche, sondern in der Medizin auch für körperliche Verletzungen verwendet. Hier soll es um psychische Traumata gehen.
Seelische Traumata sind in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet (Dr. med. Ero Langlotz, Newsletter vom 8.2.2021, https://www.e-r-langlotz.de/newsletter-leiden-in-liebe-verwandeln/). Eine Traumatisierung entsteht, wenn die Fähigkeit des Gehirns, ein Ereignis zu integrieren, überfordert ist. Die eigenen Bearbeitungsmechanismen reichen zum Verarbeiten und Bewältigen der Situation nicht aus. Der Körper bekommt dann keine Meldung, dass das Ereignis vorüber ist und eine Normalisierung der Stressreaktion stattfinden kann. Das Ereignis bleibt als gegenwärtig abgespeichert und kann in entsprechenden Situationen getriggert werden. Das Gehirn sagt nicht: „Das ist passiert.“, sondern es verbleibt beim: “Das kann alles nicht wahr sein.“ Das Lebensgefühl eines traumatisierten Menschen entspricht einer Fahrt mit der Achterbahn. Sein Nervensystem befindet sich nicht mehr oder nur noch höchst selten im Gleichgewicht, sondern schwankt von einem Zustand der Übererregung zu einem Zustand der Untererregung (Charf, D., Auch alte Wunden können heilen, S. 19, 2018).
Das medizinische Klassifikationssystem ICD 10 und die zugehörigen diagnostischen Anleitungen beschreiben ein Trauma als „[…] ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.“ (Dilling, H., Freyberger H.: Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, 9. Aufl.). Dazu zählen Naturkatastrophen oder menschlich verursachtes schweres Unheil (man-made disaster), wie Kampfeinsätze, schwerer Unfall, Beobachtung des gewaltsamen Todes anderer oder Opfersein von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung, Misshandlungen oder anderen Verbrechen. Dieses sogenannte „Schocktrauma“ wird traditionell als Trauma eingeordnet.
Heute ist aber bekannt, dass auch sich wiederholende Ereignisse, die ein hohes Stressniveau auslösen, eine Traumatisierung zur Folge haben können, vor allem beim Entwicklungstrauma. Ein Entwicklungstrauma kann entstehen, wenn Babys nicht genügend Körperkontakt bekommen, sie schreien gelassen werden, sich Kinder zu wenig gesehen fühlen, es Bindungsunterbrechungen gibt, wie Krankenhausaufenthalte, etc (Charf, D., Auch alte Wunden können heilen, S. 19, 2018). Da der Mensch noch wie in der Steinzeit tickt, empfinden Babys Todesangst, wenn sie zum Schlafen im Nebenzimmer abgelegt werden. Babys sind so programmiert, dass sie durch Schreien auf sich aufmerksam machen müssen, wenn sie irgendwo allein zurückgelassen zu werden. Sie haben Todesangst wenn sie nicht spüren, dass ihre Bezugsperson in der Nähe ist. Denn das Allein-Zurückgelassen-Werden bedeutete für die Babys in der Steinzeit den Tod. Hören Babys in dieser Situation also auf zu Schreien, dann aus Erschöpfung.
Traumata können also nicht nur durch plötzliche einschneidende Erlebnisse entstehen, sondern auch durch sich wiederholende Ereignisse in der Kindheit, die aus der Sicht eines Erwachsenen nicht gefährlich sind, einfach, weil sie der Programmierung des kindliches Systems und damit deren Bedürfnissen widersprechen.
Traumafolgen
Ein nicht geheiltes Trauma mindert unsere Fähigkeit, präsent und vollständig verkörpert zu sein. Es leidet darunter auch unsere Fähigkeit, auf andere einzugehen und uns mit ihnen auf gesunde Art verbunden zu fühlen
Ist die frühe Kindheit stressbelastet, so bildet sich eine geringere Schwingungsbreite des autonomen Nervensystems heraus. Das autonome Nervensystem hat die Aufgabe, unsere Erregung zu steuern und zu modulieren, also sowohl unsere Wach- als auch unsere Entspannungszustände. Es heißt »autonom«, weil es sich dadurch auszeichnet, dass es nicht direkt willentlich beeinflusst werden kann. Im autonomen Nervensystem wirken Sympathikus und Parasympathikus zusammen. Während der Sympathikus für angenehme Erregung, Neugier, Freude und Aktionspotenzial zuständig ist, sorgt der Parasympathikus für wohlige Entspannung, erholsamen Schlaf, meditative Ruhe sowie Gefühle von Verbundenheit. Ein gesundes autonomes Nervensystem flexibel und damit fähig, in beide Richtungen zu schwingen. Menschen mit einer größeren Schwingungsbreite können mehr Gefühle, d.h. Erregung zulassen, ohne dass es sie stresst. Sie können stärkere Glücksgefühle empfinden und auch mehr Stress aushalten als Menschen mit einem schmalen Toleranzfenster. Um innerhalb des Toleranzfensters zu bleiben, müssen wir uns ständig regulieren.
Wir alle fühlen uns am wohlsten, wenn wir uns im Rahmen unseres Toleranzfensters bewegen, und streben diesen Zustand an. Das bedeutet gleichzeitig, dass wir uns ununterbrochen so regulieren müssen, dass wir innerhalb des Fensters bleiben. Dazu müssen wir ständig Kontakt mit unserem Körper, unseren Gefühlen und Bedürfnissen halten, um eine innere Dysregulation sofort ausgleichen zu können.
Wird der Stresspegel zu hoch, so überschreiten wir den Toleranzbereich. Wutausbrüche, Vermeidung sozialer Kontakte, chronische Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche etc. sind die Folgen. Wird der Stresslevel auf Dauer so hoch, dass das Toleranzfenster ständig überschritten ist, so sind Burnout, Angst- und Panikzustände, Depressionen, chronische Verspannung etc., aber z.B. auch ein inneres Gefühl von Abgeschnittensein. Damit das Trauma nicht getriggert wird, versucht die Person Trigger zu vermeiden, d.h. sich nicht in Situationen zu begeben, die das Trauma aktivieren.
Kollektives Trauma
Ein Trauma, das eine einzelne Person erleidet, ist ein sehr individuelles Erleben. Bei einer kollektiven Traumatisierung sind viele Menschen unter den gleichen Einflüssen einem überwältigendem Ereignis ausgesetzt. Dies ist beispielsweise bei einer Naturkatastrophe oder einem Bombenabwurf der Fall.
Bei einem individuellen überwältigenden Ereignis kann es sein, dass kein Trauma zurückbleint, weil die Umstände in der Folge des Ereignisses ein Verarbeiten der schrecklichen Situation erlauben. Bei einer kollektiven Traumatisierung ist dies kaum möglich, da alle Betroffenen mit der Verarbeitung ihres eigenen Traumas kämpfen und daher für andere Traumatisierte nicht ausreichend zur Verfügung stehen.
Ebenso wie bei der Traumatisierung eines Individuums entsteht bei einer kollektiven Traumatisierung Vermeidungsverhalten, nun aber des Kollektivs. Es werden Verhaltensweisen der Vermeidung Konsens. Dieses Vermeidungsverhalten soll helfen, das kollektive Trauma nicht zu triggern. So galt nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland der Satz: "Schaut nach vorn und nicht zurück." Durch fleißige Arbeit wurde das Land wieder aufgebaut. Leider wurde ist dieser Überlebensmodus "Dem Elend entfliehen durch Fleiß." auch heute noch im Kollektiv verankert. Dieses "Überleben durch den Habens-Modus" hat seine Kehrseite in darin, dass das immer weitere Anhäufen materieller Güter zur Umweltzerstörung führt. Außerdem ist dieses "Immer-Beschäftigt-sein" eine gängige Betäubungsstrategie, die uns davon abhält, den schmerzliche Traumata und unsere Verletzlichkeit nicht an uns heranzulassen. Kollektive Traumatisierungen sind oft auch die Traumatisierungen, die transgenerational weitergegeben werden, wie man am Beispiel der Traumatisierungen im 2. Weltkrieg in Deutschland sehen kann. Die Corona-Lockdowns haben uns ein Stück weit aus diesem "Immer was zu tun haben müssen" rausgerissen, z.B. durch Kurzarbeit oder durch weniger Freizeitangebote. Dies ist die Chance, die Kriegstraumata nun endlich zu verarbeiten, damit sie nicht an die nächste Generation weiter gegeben werden.