Der SelbstVerbindungs-Blog
von Dr. Grit Ludwig
Kollektives Wendetrauma der Ostdeutschen – Teil 2: Entwertung ostdeutscher Biografien und kultureller Werte
(Stand: 11.10.2021)
Durch die Vorgänge nach der sog. Deutschen Einheit am 3.10.1990 wurden zwei Arten von kollektiven Traumata bei den damals in Ostdeutschland Lebenden hervorgerufen: Zum einen ein kollektives Trauma aufgrund von Existenzbedrohung (Wirtschaft am Boden, hohe Arbeitslosigkeit, aus soziologischer Sicht kriegsähnliche Zustände) und zum anderen ein kollektives Entwertungstrauma gekoppelt mit Kultur- und Werteverlust. Teil 2 des Blogs behandelt hier das kollektive Trauma der Entwertung.
Zunächst blicke ich in Abschnitt A auf die Vorgänge in Ostdeutschland Anfang der 1990er Jahre zurück, und zwar im Hinblick auf Institutionen, Kultur und Werte. In Abschnitt B beleuchte ich die Folgen dieser Vorgänge für die Psyche der damals in Ostdeutschland lebenden Menschen. In Abschnitt C werden die bis heute andauernden Wirkungen beschrieben. In Teil D nehme ich Stellung zur Frage: „Was nun?“.
A. Die Vorgänge in Ostdeutschland Anfang der 1990er Jahre im Hinblick auf Institutionen, Kultur, Werte
Auf dem Bild von der Ehrentribüne am Reichstagsgebäude am Tag der Deutschen Einheit ist kein einziger Ostdeutscher zu erkennen - nur Westdeutsche Politiker in Siegerpose, zwei davon mit ihren Ehefrauen. "Da kommt nichts zueinander", wie Jana Hensel in dem Buch "Die Gesellschaft der anderen", das sie zusammen mit Naika Fourotan verfasst hat, treffend feststellt. Es fühlt sich eher nach einer Einverleibung an.
Und tatsächlich: In Ostdeutschland wurden Anfang der 1990er die Institutionen, Kultur und Werte aus der alten Bundesrepublik übernommen. Nachdem dies geschehen war, erfolgte der nächste Schritt: Mit dem Hinweis, dass die ostdeutschen das bundesdeutsche Recht und System nicht kennen würden, fand auch ein Import von Eliten aus dem Westen statt. Wie konnten die Ostdeutschen dem zustimmen? Vorausgegangen war dem eine massive Beeinflussung der Wahlen zur Volkskammer am 18.3.1990. Diese hatte zur Folge, dass die Volkskammer mehrheitlich aus dem Westen genehmen "Volksvertretern" bestand. Die Ostdeutschen waren zu dieser Zeit noch mit dem massiven politischen Umbruch durch die Wende beschäftigt. Sie trauten auch den "Schwestern und Brüdern" aus dem "einen Volk" nicht so eine perfide Überrumpelung zu. Die Übernahme von Recht der Alt-BRD führte sogar soweit, dass man zwar das Recht übernahm, aber gleichzeitig nachteilige Sonderregelungen für Ostdeutschland einführte, so dass die Ostdeutschen noch nicht einmal nach dem West-Standard geschützt waren. Dies möchte ich am Beispiel des Rechts für den Abbau von Bodenschätzen erläutern.
a) Beeinflussung von Wahlen aus dem Ausland
Die Beeinflussung von Wahlen aus dem Ausland wurde anlässlich der letzten Bundestagswahl im Herbst 2021 heftig diskutiert und zu Recht verurteilt. Solche Vorgehensweisen gab es aber in Deutschland bereits im Jahr 1990, nämlich die massive Beeinflussung des Wahlkampfs in der DDR vor der Volkskammerwahl am 18.3.1990. Akteure aus der alten Bundesrepublik griffen damals entscheidend in den Wahlkampf in der damaligen DDR ein. Die Wiedervereinigung war bereits seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland der Wunsch westdeutscher Politiker. Der im Jahr 1989 amtierende Bundeskanzler Kohl sah die Chance, diese nun umzusetzen und als „Kanzler der Einheit“ in die Geschichtsbücher einzugehen. Seine Wiederwahl stand wohl auf dem Spiel und mit der Deutschen Einheit stiegen sein Chancen, wiedergewählt zu werden, immens. Um die Deutsche Einheit zu erreichen, setzte Kohl eine Überrumpelungstaktik ein, die zwar ihm und seinen Anhängern, nicht aber den meisten „Schwestern und Brüdern“ in der damaligen DDR gut bekam. Kohl war sich darüber im Klaren, dass die Wahl in der DDR schon eine Vor-Bundestagswahl ist und ihr Ergebnis erheblichen Einfluss auf die Bundestagswahl haben würde (Yana Milev, Der Kreuzer, Heft 10/2020, S. 15). Die Bundestagswahl musste nach dem damaligen Art. 39 Grundgesetz turnusgemäß frühestens am 18. November 1990 und spätestens am 12. Januar 1991 durchgeführt werden (Wikipedia-Eintrag zur Bundestagswahl 1990). Zur Umsetzung der oben beschriebenen Pläne des Eingehens in die Geschichte als "Kanzler der Einheit" war eine massive Beeinflussung der Volkskammerwahl am 18.3.1990 erforderlich, d.h. völkerrechtswidrig über Staatsgrenzen hinweg. Diese wurde auch in die Tat umgesetzt.
Unter der Schirmherrschaft des Bonner Kabinetts gründeten Helmut Kohl und CDU-Generalsekretär Volker Rühe am 5.2.1990 in West-Berlin das Wahl-Bündnis „Allianz für Deutschland“. Dieses setzte sich aus Ost-CDU und den beiden in der Wendezeit empor gekommenen Parteien, der Deutsch-Sozialen Union (DSU) und dem Demokratischen Aufbruch (DA) zusammen (Yana Milev, Der Schock – Was nach der Wende kam, Der Kreuzer Heft 10/2020), S. 15). Sodann konnte der Wahlkampf beginnen. Teil dieses Wahlkampfs war, die Währungsunion als Forderung des DDR-Volks zu inszenieren. Der Slogan: „Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“, kam keineswegs - wie den Wählerinnen und Wählern glauben gemacht wurde - aus dem DDR-(Wahl)volk, sondern vom Kohl-Vertrauten Horst Teltschik. Der Spruch war Teil des Marketings zur Übernahme der DDR. Weitere Teile der Erzählung waren, dass sich die DDR auf einen Wirtschaftskollaps und Zahlungsunfähigkeit zubewege, dass die Modrow-Regierung unfähig sei, Entscheidungen zu treffen und dass die Massenfluchten gestoppt werden müssten (Yana Milev in Kreuzer Heft 10/2020). Damit diese Taktik aufging, war eine massive Panikmache in der Bevölkerung vonnöten. Wie man mit der Gleichschaltung der Medien und mit Angst-Schüren in der Bevölkerung Politik betreibt, ist ja in Deutschland schon länger bekannt. Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums, sagte zwanzig Jahre später zum Wahlkampf: »Das Bonner Nilpferd ist in einer Massivität gekommen, dass man einfach hilflos war. Im Wahlkampf ist einfach der gesamte Apparatismus des Westens in den Osten gebracht worden. Dem hatten wir nichts entgegenzusetzen. Das waren in die DDR exportierte Westwahlen.« (zitiert in Yana Milev, Das Treuhandtrauma, S. 15).
Neben den gewonnenen Wahlen brauchte man noch eine Strategie für die Übernahme der DDR. Bereits am 5. März 1990, so Horst Teltschik, damaliger Leiter der Abteilung Außen- und Sicherheitspolitik und Kohl-Intimus, habe sich bei einem internen Gespräch im (West)Kanzleramt die Regierungskoalition »endgültig« darauf geeinigt, »den Weg zur Einheit nach Artikel 23 GG zu gehen« (Horst Teltschik, zitiert in Yana Milev, Das Treuhand-Trauma, S. 24). Dies war bereits zwei Wochen, bevor überhaupt die Wahlen stattgefunden hatten. Artikel 23 Grundgesetz in seiner bis zum 3. Oktober 1990 gültigen Fassung legte fest: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen." Dass die im Wege des massiv beeinflussten Wahlkampfs gewählten „Volksvertreter“ die DDR so schnell wie möglich an ihre Geldgeber übergeben wollten und so am 23.8.1990 mehrheitlich dem Beitritt nach Art. 23 GG zustimmten, verwundert nicht weiter. Für den Fall einer Wiedervereinigung hatte dagegen Art. 146 GG vorgesehen: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." (vgl. Dreier, 2009, Das Grundgesetz - eine Verfassung auf Abruf?, https://www.bpb.de/apuz/32023/das-grundgesetz-eine-verfassung-auf-abruf?p=all). Dass die Übernahme der DDR ein Beitritt und keine Wiedervereinigung war, vermied man aber dennoch in der Öffentlichkeit kundzutun, denn als „Kanzler des Beitritts“ wollte Kohl nun auch wieder nicht in die Geschichtsbücher eingehen.
b) Übernahme von Institutionen aus dem Westen
Folge des Beitritts war, dass die Institutionen – von den Parteien bis zu den Gewerkschaften, von den Wohlfahrtsverbänden bis zu den Sozialversicherungen - mit dem Tag des Beitritts durch Bundestagsbeschluss aus dem Westen übernommen wurden. Diese Institutionen waren schon im Westen nicht mehr auf der Höhe der Zeit gewesen (Wolfgang Schroeder, Politikwissenschaftler an der Universität Kassel in: Der Tagesspiegel vom 9.6.2021). Darüber hinaus stießen sie im Osten auf kulturelle Bedingungen, zu denen sie nicht passten. Osterfahrung und Ostkompetenz waren dagegen nicht gefragt. Außer dem berühmten „grünen Abbiegepfeil“ wurde kaum etwas in die neue Wirklichkeit der Ostdeutschen, geschweige denn in die des "wiedervereinigten" Gesamtdeutschlands, übernommen. Schon gar nicht wurde es als aus dem östlichen Teil Deutschlands stammend wertgeschätzt.
c) Übernahme von Eliten aus der Alt-BRD
Mit den Institutionen kamen auch die Menschen, die sich mit diesen auskannten, in den Osten und bildeten die neue Elite. So konstatiert der 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, „dass es nach der Wiedervereinigung für bestimmte Aufgaben in Ostdeutschland schlicht kein adäquat ausgebildetes Personal gab (etwa im Bereich des Rechtswesens).“ Die Aussage, dass Ostdeutsche aufgrund ihrer Ausbildung in der DDR nicht hinreichend qualifiziert waren, verantwortungsvolle Positionen in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Beitritt der DDR angemessen auszufüllen, kann allerdings keineswegs für alle Bereiche und Aufgaben gelten. Der flächendeckende und undifferenzierte Elitewandel zum Nachteil Ostdeutscher führte zu vielfachen demütigenden Erfahrungen der Entwertung des bisherigen Lebens, der mitgebrachten Kenntnisse und gemachten Erfahrungen.
d) Bodenschätze als Beispiel der Übernahme von Institutionen – mit gleichzeitig nachteiligen Sonderregelungen für Ostdeutschland
Ein Beispiel, wie die Übernahme des Rechtssystems der alten Bundesrepublik und Sonderregelungen zum „Aufbau Ost“ zu einem Ausverkauf der DDR beitrugen, ist mir während meiner Arbeit in der Wissenschaft begegnet. Meine Doktorarbeit habe ich u.a. über das Recht zum Abbau von Bodenschätzen geschrieben. In der DDR gehörten Bodenschätze zum Volkseigentum, also den ca. 17 Mio. DDR-Bürgerinnen und -Bürgern. In den alten Bundesländern gehörten die meisten Bodenschätze den Grundstückseigentümer*innen, z.B. Baukiese und -sande, aber auch Ton, Kaolin, Quarz etc. Für volkswirtschaftlich besonders wertvolle Bodenschätze (neben Braunkohle vor allem Metalle oder auch Phosphor) wurde nach dem Bundesberggesetz das Eigentum am Bodenschatz vom Eigentum am Grundstück abgetrennt und Gewinnungsrechte an Private erteilt.
Hätte man diese Regelungen für das Beitrittsgebiet übernommen, so hätten ostdeutsche Grundstückseigentümer*innen für die meisten Bodenschätze die Abbaurechte übertragen bekommen. Was hat man aber gemacht?
Zunächst war durch die Verordnung über die Verleihung von Bergwerkseigentum (BergwerksEigVO) der Katalog der volkseigenen Bodenschätze noch in den letzten Wochen der DDR neu festgelegt worden und hatte einen außerordentlichen Umfang erhalten. Erfasst waren zum großen Teil nun auch solche Bodenschätze, die in den westlichen Bundesländern als grundeigen eingestuft sind oder gar nicht dem BBergG unterfallen. Die Überleitung im Einigungsvertrag bewirkte, dass in den östlichen Bundesländern nun hauptsächlich bergfreie, kaum grundeigene und keine Grundeigentümerbodenschätze vorkamen. Weiter ermöglichte die Bergwerkseigentumsverordnung für die in § 3 Berggesetz der DDR aufgeführten Bodenschätze, Bergwerkseigentum an die Treuhandanstalt zu verleihen. Von dieser Möglichkeit wurde in der kurzen Zeit zwischen 15. August und 2. Oktober 1990 in erheblichem Umfang Gebrauch gemacht. Mit der Begründung, der Aufbau Ost müsste vorangetrieben werden, ordnete Art. 8 mit Anl. I Kap. V Sachgeb. D Abschn. III Nr. 1 Einigungsvertrag sämtliche auf DDR-Gebiet vorkommende Bodenschätze als bergfrei nach § 3 Abs. 3 BBergG und damit nicht zum Grundstückseigentum gehörig ein. Damit war der Weg frei, dass der Staat Gewinnungsrechte an Private verkaufen konnte. Das tat er – und die Käufer waren Unternehmen aus dem Westen, denn die Ostdeutschen hatten kein Geld, um Gewinnungsrechte in ihrer eigenen Region, vielleicht sogar auf ihrem eigenen Grundstück zu kaufen. Zumal ihnen – wenn das Grundstück in den alten Bundesländern gelegen wäre – zumindest für Kiese, Sande, Steine und die in § 3 Abs. 4 Bundesberggesetz genannten grundeigenen Bodenschätze einfach so zugestanden hätte.
Mit dem Gesetz zur Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse bei Bodenschätzen vom 15.4.1996 wurde die Sonderregelung aufgehoben. Die Claims waren da schon lange abgesteckt und Gewinnungsrechte verkauft. Die DDR war sehr gut nach Bodenschätzen abgesucht worden und viele Lagerstätten bekannt. Für sämtliche bekannte Lagerstätten wurden die Gewinnungsrechte auch ausgereicht. Die die nach Recht des Einigungsvertrags erteilten Gewinnungsrechte bleiben aus Gründen des Bestandsschutzes nach § 2 des Gesetzes zur Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse bei Bodenschätze aufrechterhalten. Noch auf Jahre bis Jahrzehnte werden daher in den östlichen Bundesländern Kiese, Sande und Steine als bergfreie Bodenschätze gefördert – und zwar nicht unter der Ägide der Grundstückseigentümer wie in den alten Bundesländern (zur Rechtslage vgl. Grit Ludwig (2017): Keine originäre Bewirtschaftungsplanung für die Bodenschätzegewinnung, in: Köck, W., Bovet, J., Fischer H., Ludwig G., Möckel, S., Faßbender, K.: Das Instrument der Bedarfsplanung – Rechtliche Möglichkeiten für und verfahrensrechtliche Anforderungen an ein Instrument für mehr Umweltschutz, UBA-Texte 55/2017, S. 273 (281 f.)).
B. Folgen dieser Vorgänge für die Psyche der damals in Ostdeutschland lebenden Menschen
Innerhalb kürzester Zeit machten die Ostdeutschen die Erfahrung, dass ihre bisher gelernten kulturellen Werte, ihre Kenntnisse und Erfahrungen aus der DDR keinen Wert mehr hatten. Sie konnten damit in dem altbundesrepublikanisch geprägten System wenig anfangen.
Neben direkten Umbruchserfahrungen durch Abwicklung und Liquidation (dazu mein Blog Wendetrauma Teil 1) mussten sie den Ausschluss aus gesellschaftlicher Gleichbehandlung und Partizipation erleben. Dazu gehören kollektive und individuelle Erfahrungen mit Verwerfung, Vertreibung und Verlust von Gemeinschaft, ebenso wie gesellschaftliche Herabsetzung, Stigmatisierung und Diskriminierung. Dazu kamen sozialer Abstieg und verfestigte Armut. Da sich mit dem Rechtssystem und den Institutionen auch die Kultur und Werte komplett veränderten, wurden die Ostdeutschen mit dem Beitritt zu Migrant*innen im eigenen Land. Aufgrund dieser Tatsache bezeichnet die Soziologin Yana Milev die 1990 im Beitrittsgebiet verbliebenen Ex-DDR-Bürger als »Exil-Ostdeutsche«. „Ohne ihre angestammte Heimat oder ihr Haus verlassen zu haben, befanden (und befinden) sie sich in einem ihnen fremden Land. Exil-Erfahrungen sind vorwiegend von Tatbeständen bestimmt, die in der Katastrophensoziologie als »krasser sozialer Wandel« und als »entsetzliche soziale Prozesse« bezeichnet werden." (Yana Milev, Das Treuhand-Trauma, Die Spätfolgen der Übernahme, S. 209). Und das trifft aufgrund der oben beschriebenen Tatsachen auf die Ostdeutschen Anfang der 1990er Jahre zu.
Der richtige Prozess wäre zunächst der Abschied vom bisher Gewesenen, die Trauer und die Wut über die Zustände in der DDR gewesen. Erforderlich wäre der Abschluss der Revolution mit einer Bestrafung der real Schuldigen, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und neuen Gesetzen, die eigenverantwortliche Neuregelung der Wirtschaft und der Eigentumsverhältnisse sowie eine ausführliche gesellschaftliche Diskussion über die politische und militärische Orientierung gewesen (Hans-Joachim Maaz: Das falsche Leben - Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft, 2020, S. 203). Die Verabschiedung des Alten ist immer die Voraussetzung für einen Neuanfang. Zur Aufarbeitung und Verabschiedung der DDR-Vergangenheit wurde den Ostdeutschen aber keine Zeit gelassen.
„»Exil-Ostdeutsche« leiden an der Entkopplung/Entwurzelung aus dem sozialen Herkunfts- und Wertesystem und an der Nicht-Anerkennung ihrer Lebensleistung (in der DDR inklusive ihrer Adapationsleistungen nach 1990), an der Amnesie von Erinnerungskultur sowie an der Nicht-Anerkennung und Nihilierung ihrer kulturellen Identität, Herkunft und Biografie. Ihre Erfahrungen weisen vielfältige Symptome eines Assimilations-, Migrations- und Kulturkonflikts auf. Dazu zählen Traumata, plötzliche und chronische Erkrankung, vorzeitiger Tod oder Tod aus Verzweiflung (Death of Despaire) im Zusammenhang mit Drogen, Alkohol, Depressionen.“ (Yana Milev, Das Treuhand-Trauma, Die Spätfolgen der Übernahme, S. 209).
Die Erfahrungen der Wertlosigkeit des gesamten bisherigen Lebens, der Entwertung des eigenen Lebenslaufs führte zu individuellen Traumatisierungen, die sich zu Kollektiven Traumata vereinten. Ein Trauma ist ein überwältigendes Ereignis, für das das Gehirn in dem Moment, in dem es passiert, keine Bewältigungskapazität hat. Eine Traumatisierung entsteht, wenn die Fähigkeit des Gehirns, ein Ereignis zu integrieren, überfordert ist. Der Körper bekommt dann keine Meldung, dass das Ereignis vorüber ist und eine Normalisierung der Stressreaktion stattfinden kann. Das Ereignis bleibt als gegenwärtig abgespeichert und kann in entsprechenden Situationen getriggert werden. Das Gehirn sagt nicht: „Das ist passiert.“, sondern es verbleibt beim: “Das kann alles nicht wahr sein.“ Das medizinische Klassifikationssystem ICD 10 und die zugehörigen diagnostischen Anleitungen beschreiben ein Trauma als „[…] ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.“ (Dilling, H., Freyberger H.: Taschenführer zur ICD-10 Klassifikation psychischer Störungen, 9. Aufl.).
Bei einer kollektiven Traumatisierung erleben viele Menschen unter den gleichen Einflüssen eine individuelle Traumatisierung (siehe https://www.dr-grit-ludwig.de/selbstverbindungs-blog/wie-entsteht-ein-trauma/). Bei einem individuellen überwältigenden Ereignis kann es sein, dass keine Traumatisierung entsteht, weil die Umstände in der Folge des Ereignisses ein Verarbeiten der schrecklichen Situation erlauben. Bei einer kollektiven Traumatisierung ist dies kaum möglich, da alle Betroffenen mit der Verarbeitung ihres eigenen Traumas kämpfen und daher für andere Traumatisierte nicht ausreichend zur Verfügung stehen.
Über den Zustand in den Köpfen der Ostdeutschen gibt eine Emnid-Studie von Ende 1992 Auskunft. Sie konstatierte, dass 45% der Bevölkerung in Ostdeutschland eine depressive Stimmung und Angst vor der Zukunft haben: „In dieser Welt des Umbruchs und der Ungewißheit, in der noch immer mehr untergeht als neu entsteht, hat sich unter den Ostdeutschen eine depressive Stimmung verbreitet, wie sie Deutschlands Demoskopen noch nie und nirgends festgestellt haben, nicht mal im Ruhrgebiet, als dort die Zechen starben. Mehr als ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung in der Ex-DDR hat das Gefühl, »in dieser Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden": 36%, das sind viereinhalb Millionen Menschen. Die Stimmung, überflüssig zu sein, ist bei den Jüngeren unter 30 ebenso stark entwickelt wie bei den Älteren zwischen 50 und 60. Andere Emnid-Daten von Ende 1992 bestätigen diesen Befund: „Von Jahr zu Jahr ist nach der Wende der Anteil derer gestiegen, die »Angst vor der Zukunft« haben, von 33% im Herbst 1990 auf 37 Prozent Mitte 1991 und nun auf 45 Prozent.“ (Erst vereint, nun entzweit; Der Spiegel Heft 3/1993). Wie Wolfang Zapf (Wolfang Zapf 1992, Die Transformation in der ehemaligen DDR und die soziale Theorie der Modernisierung, Öffentlicher Vortrag im Rahmen der Fachbeiratssitzung des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, 23. April 1992, MPIFG Discussion Paper 92/4, Köln) feststellte, sind solche kollektiven Einschnitte nur aus Kriegsjahren bekannt. Aufgrund der hohen Anzahl derer, die ob der Umstände hoffnungslos und verzweifelt waren, ist von einer kollektiven Traumatisierung durch das Nachwendetrauma der kulturellen Entwertung auszugehen.
C. Gesellschaftliche Auswirkungen bis heute
Auch wenn die Mauer schon längst nicht mehr steht, ist Deutschland auch 31 Jahre nach dem Beitritt Ostdeutschlands zur damaligen Bundesrepublik Deutschland ein gespaltenes Land. Das Kollektive Trauma der Entwertung von Biografien und kultureller Werte ist nicht aufgearbeitet und wurde auch bereits an die jüngere Generation übertragen. So attestierte z.B. der thüringische Wissenschaftsminister Wolfgang Tiefensee ostdeutschen Studierenden ein noch zu geringes Selbstbewusstsein.
Ein nicht geheiltes Trauma mindert unsere Fähigkeit, präsent und vollständig verkörpert zu sein. Es leidet darunter auch unsere Fähigkeit, auf andere einzugehen und uns mit ihnen auf gesunde Art verbunden zu fühlen. Traumatisierte sind anfälliger für Stress. Wird der Stresspegel zu hoch, sind Wutausbrüche, Vermeidung sozialer Kontakte, chronische Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche etc. die Folgen. Ist der Stresslevel auf Dauer hoch, so führt dies zu Burnout, Angst- und Panikzuständen, Depressionen, chronischer Verspannung etc., aber z.B. auch einem inneren Gefühl von Abgeschnittensein. Damit das Trauma nicht getriggert wird, versucht die Person Trigger zu vermeiden, d.h. sich nicht in Situationen zu begeben, die das Trauma aktivieren.
Ebenso wie bei der Traumatisierung eines Individuums entsteht bei einer kollektiven Traumatisierung Vermeidungsverhalten, nun aber des Kollektivs. Es werden Verhaltensweisen der Vermeidung Konsens. Dieses Vermeidungsverhalten soll helfen, das Kollektive Trauma nicht zu triggern. So galt nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland der Satz: "Schaut nach vorn und nicht zurück." und "Wir wollen durch Fleiß dem Elend entfliehen." Leider ist dieser Überlebensmodus "Dem Elend entfliehen durch Fleiß." auch heute noch im Kollektiv verankert und viele können sich immer noch nur schwer davon lösen, auch wenn es ihnen materiell gut geht. Im Fall des ostdeutschen Existenzbedrohungstraumas kann z.B. eine Möglichkeit des Vermeidungsverhaltens sein, dass man weniger Risiko hinsichtlich der eigenen Existenz eingeht, sondern mehr Sicherheit sucht, z.B. in einer Angestelltentätigkeit statt einer Selbständigkeit.
Traumatisierte haben auch oft Schuldgefühle, sie fühlen sich selbst für das ihnen Widerfahrene verantwortlich. Die zum Trauma führenden Umstände rufen Erfahrungen extremer Wirkungslosigkeit hervor. Dadurch, dass sich Opfer selbst die Schuld geben, weichen sie der Erfahrung der Wirkungslosigkeit aus. Die Schuldgefühle verhindern aber eine Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Situation und der Verbannung des Traumas aus dem eigenen Raum.
Kollektive Traumatisierungen sind oft auch die Traumatisierungen, die transgenerational weitergegeben werden. D.h., auch Menschen, die Anfang der 1990er Jahre noch Kinder waren oder noch nicht einmal geboren, können das Trauma der Existenzbedrohung von ihren traumatisierten Bezugspersonen übernommen haben. Das (eigene oder von Bezugspersonen übernommene) Trauma der Entwertung kann getriggert werden durch Umbruchssituationen, in denen Zukunftsängste wieder hochkommen, z.B. im Zuge der gegenwärtigen Einschnitte in Erwerbsbiografien durch die Corona-Maßnahmen.
Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede anlässlich des Festakts zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2021 an ihrem eigenen Beispiel erläuterte -, werden die Biografien der Ostdeutschen, ihre in der DDR gemachten Erfahrungen auch mehr als 30 Jahre nach der sog. Wiedervereinigung nicht als Bereicherung angesehen. Im Gegenteil: Frau Merkels Erfahrungen in der DDR - immerhin 35 Jahre Lebenszeit - wurden noch Ende 2020 als Ballast eingeordnet, als in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit nicht zu verwendende Erkenntniss und Erfahrungen. Außerdem spricht Frau Merkel an, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung anscheinend immer noch zwei Arten von Bundesdeutschen und EuropäerInnen gibt: die als solche Geborenen und die "Angelernten". In einem Artikel in der "Welt am Sonntag" von Ende 2020 wurde Frau Merkel selbst als "angelernte Bundesdeutsche und Europäerin" bezeichnet.
D. Wie weiter?
Wie kann es in solch einem gespaltenen Land weitergehen? Zunächst muss man sich gegenseitig zuhören. Ostdeutsche wurden viel zu oft als "Jammerossis" abgestempelt, wenn sie berichten wollten, welche schwierigen Erfahrungen viele von ihnen mit dem Beitritt der DDR zur alten Bundesrepublik machen mussten. Aber da scheint sich ein langsames Umdenken abzuzeichnen, für das die Rede der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 3.10.2021 einen Anfangspunkt darstellt. Wenn die Karten auf dem Tisch liegen und das Ausmaß der sozialen und psychischen Verwerfungen bekannter sind, kann man über Maßnahmen der Wiedergutmachung nachdenken. Hinzu kommt die individuelle Aufarbeitung der traumatischen Erfahrungen, damit sie nicht noch an die übernächste Generation weitergegeben werden.